Es war einmal: Wie ich fast gestorben wäre …
Geschrieben von Ute Kretschmer-Risché | Blog

Es war einmal … so beginnen Märchen. Es war einmal … so beginnt meine Weihnachtsgeschichte, die ich wirklich in den 90er Jahren in New York erlebt habe. Anfang Dezember beim Christmas-Shopping. Alles war so viel größer, als das, was ich je gesehen hatte. Die Weihnachtsbäume, der Park, die Hochhäuser, die Schlittschuhfläche, der Spielwarenladen. Einfach Big Apple. Ich war Teil einer Reisegesellschaft mit dem wunderbaren Guide Samuel. Gleich in der ersten Stunde gab er uns viele Tipps.

Darunter diesen: „Stecken Sie sich bitte einen 20-Dollar-Schein in Ihre Jacken- oder Manteltasche. Wenn Sie überfallen werden, spielen Sie nicht den Helden. Geben Sie sofort diesen Schein. Manchmal reicht das schon …“ Gesagt. Getan. Wieder vergessen. Einen Abend später, unsere Gruppe war längst im Hotel direkt am Central Park. Da zog es mich noch einmal los. Richtung Dakota House, in dem John Lennon bis zu seinem Tod lebte. In einer Seitenstraße war ein kleiner hell beleuchteter Laden, der mich fast magisch anzog. Im Schaufenster thronte ein Engel. Etwas schief, etwas schrill, etwas amerikanisch. Sie ahnen es vielleicht: Es ist der Engel hier auf dem Bild.

Liebe auf den ersten Blick, wie ihn vielleicht nur Frauen kennen. Ich wollte ihn haben. Rein in das Geschäft für Schreibwaren und Gedöns. Meine Frage nach dem Engel und seinem Preis wurde mit einem harten „No“ beschieden. Man verkaufe keine Schaufensterdeko. Hm. Ich musste ihn haben. Her mit einer Strategie. „I’m from germany.“ Ich betonte jedes Wort einzeln. Mit meinem blendendsten Strahlen. Natürlich reichte dieser Satz nicht im entferntesten. Warum auch? Die etwas unförmige Verkäuferin im schrill-neongrünen Overall mit Riesenschal in Lila und Bleu würdigte mich keines Blickes. „I’m from the christmas country.“ Keine Reaktion. Dämliche Strategie.

Aber ich MUSSTE ihn haben. Strategiewechsel. Ich legte 60 Dollar auf den Tresen. Und 20 Dollar extra. Ein kurzer Blick links, ein kurzer Blick rechts. Der 20-Dollar-Schein verschwand blitzschnell … und der Engel wurde für mich eingepackt. Mein Strahlen wurde breiter und echter. Und jetzt beginnt die eigentliche Geschichte.

Mit einem erhabenen Gefühl und dem Engel in einer Papiertüte verließ ich den Laden. Richtung Central Park. Kurzer Stopp und Nase putzen. Ich stellte die Tüte zusammen mit weiteren Einkäufen beseelt lächelnd neben mich. Verharrte kurz und trat den Fußmarsch zum Hotel an. „Ma’am“. Hinter mir eine Stimme wie ein Donnerhall. „Ma’am? … Ma’am! STOPP Ma’am.“ Sofort lief es mir kalt den Rücken runter. Mir war klar: Jetzt ist es so weit. Ohne auch nur zurückzuschauen oder gar anzuhalten, beschleunigte ich meinen Schritt. Halb rennend, halb stolpernd. Bewaffnet mit meinen Shopping-Triumpfen. Aber auf keinen Fall loslassend. Klar, ich war zu langsam. Und ich spürte den Atem des Verfolgers. Ob wirklich oder nicht, meine Phantasie galoppierte davon. Ich fühlte, dass mein letztes Stündchen geschlagen hat.

Auf meine Schulter krachte eine Pranke. Keine Chance. Ich stoppte. Hielt meine Tüten fest. Gehirn leer. Alle mühsam überlegten Überfallstrategien einfach weg. Von wegen in empfindliche Stellen treten, Einkaufstüten in Körper rammen. Ich drehte mich um. Hinter mir, wie konnte es anders sein, ein großer schwarzer Mann. In seiner Hand – tja, was denken Sie? Ein Messer? Eine Pistole? Aber nein. Ein 20-Dollar-Schein. MEIN 20-Dollar-Schein, der mir beim Naseputzen und dem Rausziehen eines Taschentuches aus der Manteltasche gefallen war. Der Amerikaner war einfach nur nett und hatte ihn mir hinterher getragen. Gänsehaut wich Mega-Erleichterung. Am liebsten hätte ich ihn umarmt. Aus Dankbarkeit und schlechtem Gewissen. Ich stammelt nur „Thank you“. Mehr brachte ich nicht raus. Er nickte „You are welcome“ und verschwand. Da stand ich nun mit meinem Engel, meiner Erleichterung  und meinen Vorurteilen.

Der Engel sitzt übrigens bis heute bei mir und erinnert mich daran, wie schnell einen Angst fehlleiten kann. Wie sehr wir Getriebene unserer übersteigerten Phantasie werden können. Tja, das ist meine Weihnachtsgeschichte. Verbunden mit meinen guten Wünschen für Sie: Mögen Sie viele schöne Erlebnisse haben. Alles Gute!

Herzliche Grüße
Ihre Ute Kretschmer-Risché