Wenn die Löwen aus dem Käfig brechen
Geschrieben von Ute Kretschmer-Risché | Blog

Wir können nicht mehr anders. Dank Smartphone und Tablets sind Nachrichten sofort verfügbar. Ohne Warten. Ohne Geduld. Wenn über uns der Hubschrauber kreist, wollen wir sofort wissen: Was ist passiert? Und wehe, es steht nichts in unseren Social Media Gruppen – dann wird heftig spekuliert. Nicht sinnstiftend, aber als Futter für unsere Neugierde, die wir notfalls mit Gerüchten stillen. Klingt, als ob ich Facebook und Co. ablehne? Aber nein. Ich bin ein Teil der Community. Erlebe Glücksmomente und Ärgernisse gleichermaßen.

Da ist die Frage doch wichtig: Was macht die Mobilität und Verfügbarkeit unserer Nachrichten mit uns? Blogger Sascha Lobo spricht von „Sofortness“. Das Dalli-Dalli unserer Lebenslage. Aber Zeitverknappung geht immer zu Lasten der Qualität. Vor allem weil sich Nachrichtenanbieter überschlagen, um die ersten Herausposauner zu sein. Das gilt für professionelle Schlagzeilen-Verkäufer genau so wie für die privaten News-Verbreiter. Wir sind Getriebene. Aus diesem Hamsterrad kommen wir nicht mehr heraus. Aber wir müssen gerade als Kommunikationsprofis den Umgang mit Sofortness auf den Prüfstand stellen und Modelle entwickeln, damit uns keine Lawine überrollt. Weder ausgelöst durch Untätigkeit noch durch Aktionismus. Sehenden Auges für Chancen und Risiken. Denn für den Umgang mit Sofortness brauchen wir Cleverness.

Hier aktuelle Beispiele: Letzte Woche sind zwei Löwen aus einem Gehege im Leipziger Zoo ausgebrochen. Natürlich ist das Interesse groß: bei den Leipzigern, die in Sorge sind, und bei vielen Menschen in Nah und Fern. Aber in den Sozialen Medien des Tiergartens ist lange nichts zu lesen. Dabei hätte gerade hier die Krisen-PR greifen müssen. Ruhig den Ist-Stand verbreiten. Hysterie unterbinden. Für Klarheit sorgen. Dass die Löwen weiterhin im Zoo sind. Dass der Zoo geschlossen ist. Dass die Polizei den Zoo abgeriegelt hat. Dazu sind Facebook & Co ideale Plattformen für zielgerichtete Kommunikation.

Der auch kommunikationstechnisch analysierte Amoklauf am 22. Juli im Olympia-Einkaufszentrum in München: Hier twittern hysterische Bürgerinnen und Bürger 67 örtliche Terrorziele, in denen sie angeblich Schüsse gehört haben (Quelle: Die ZEIT, 1.10.2016). Überall Fehlalarm. Die Schattenseite des Social Media. Aber einer behält die Ruhe: Marcus da Gloria Martins, Pressesprecher der Münchner Polizei. Er geht verantwortungsvoll mit den Infos über die Kanäle um. Weil die Nachrichtenlage unklar ist und er weder Massenpanik auslösen noch trügerische Entwarnung geben will. Polizei und Medien sind in einer Zwickmühle. Und wieder sind wir Getriebene der „Sofortness“. Die Bevölkerung will wissen, was los ist. Die Tweets überschlagen sich, fast immer unreflektiert. Die User denken laut. Andere denken mit – oder eben auch gar nicht. Hauptsache es gibt was zu lesen. Viele Nutzer beschweren sich über die „Lahmarschigkeit“ von ARD und ZDF. Ohne einen möglichen Nachrichtenwert zu hinterfragen. Sofortness kann schnell warnen, aber auch schnell hysterisieren. Und durch die Fehlalarme Polizeikräfte an falschen Stellen binden.

Die dunkle Macht des Internet bekommt dieser Tage auch der Mega-Player Nestlé zu spüren. Mit der Aktion #fragNestlé wird der viel gescholtene Konzern mit kritischen Fragen und Kommentaren überschüttet. Gewollt oder ungewollt? Zumindest zeigen einige Antworten, dass die Kommunikationsabteilung darauf vorbereitet war. Anders kann ein solches Angebot auch nicht beherrscht werden. Trotzdem bleibt ein großes Risiko. Je mächtiger der Konzern, je weitreichender das Thema, umso unberechenbarer das Echo. Vor allem wenn bestimmte Medien in das Spiel einsteigen. Oder bestimmte Typen. Dieser Tage: Das angebliche Experiment von Sternchen Sophia Thomalla und Gag-Schreiber Micky Beisenherz. Der nicht gerade witzige Post über Flüchtlinge und kleine Brüste führte zu einem Freudengebrüll der rechten Szene. Zu Humor gehört eben auch Hirn. Und zum Umgang mit Social Media sowieso. Denn diesen Löwen bekommen die Knallchargen so schnell nicht wieder in den Käfig.

Also, was tun? Brauchen wir Social Media tatsächlich? Privat? Beruflich? Diese Frage stellt sich schon lange nicht mehr. Es mag Nischen für Branchen und kleinere Unternehmen geben, die ohne Social Media ihre Tarnkappe leben können. Die meisten müssen sich aber stellen und den Umgang mit Twitter, Facebook, Instagram und anderen Anbietern professionalisieren. Da führt kein Weg dran vorbei. Chancen nutzen und Risiken minimieren – das ist der Weg unserer Agentur für unsere Kunden und für uns selbst. Für den Alltag und im Notfall für die Krise.

Foto/Collage: Jens Lingenau, Agentur exakt