Pokémon oder wie wir nichts sehen
Geschrieben von Ute Kretschmer-Risché | Blog

Bewerbern stelle ich gerne die Frage: „Was haben Sie auf dem Weg zu uns in die Agentur gesehen?“ Zugegeben, ich ernte oft unverständliche Blicke. Dabei möchte ich nur wissen, wie die Beobachtungsgabe eines möglichen neuen Mitarbeiters aussieht. Wie nimmt er oder sie seine Umgebung wahr? Was fällt ihm oder ihr entlang den Straßen auf? Und zwar ohne dass es eine Aufgabenstellung vor dem Bewerbungsgespräch gegeben hätte. Leider höre ich dann sehr wenig. Das mag der Nervosität geschuldet sein oder den fehlenden geschärften Sinnen. Mit Azubis und Praktikanten fahre ich gerne durch die Gegend und lasse mir zurufen, was sie erblicken.

Architekturstile. Markante Vorgärten. Sonderbare Fahrzeuge. Eigenartig gekleidete Passanten. Interessante Bäume. Unbekannte Verkehrsschilder. Aussagelose Plakate. Ungewöhnliche Läden. Belangloses oder Spektakuläres. Was auch immer. Das Kleine im Großen. Die Welt hat viel zu bieten. Gerade direkt vor unserer Haustüre. Es ist mein Plädoyer, mit offenen Augen und Ohren durch die Lande zu ziehen. Wahrnehmen ohne jegliche Einschränkung oder Fokussierung. Am besten jeder in seinem eigenen Rhythmus.

Auch deshalb ermahnen Psychologen, dass Eltern ihren Nachwuchs möglichst nicht zur Schule fahren. Ein Träumerle braucht seine Zeit und seine Muße. Nicht die elterliche Hektik aus Erwachsenensicht. Einfach mal stehen bleiben, wenn es etwas zu erforschen gibt. So wird Interesse zu Wissen. Neugierde zu Phantasie. Entdeckung zu Kreativität. Was kann es Schöneres geben als ein Leben genau davon: voller Wissen, Phantasie und Kreativität. Die Summe als Transferleistung. Der denkende und schaffende Mensch. Ich denke, also bin ich. Ich kreiere, also bin ich selbstbestimmt.

Demnach sollten wir alles loben, was uns irgendwie in Bewegung hält? Geistig, seelisch, körperlich. In unserer heutigen Zeit müsste ich dafür nicht mal meinen Raum verlassen. Fernseher und Computer als Fenster in den Kosmos. Mit google street view rund um den Globus. Mit Xbox und Wii in der virtuellen Arena. Denkbar. Und das zeigt bereits die Eindimensionalität. Glücklich, wer alle Sinne beisammen hat – und diese bedienen kann. Was schrieb eine Mutter kürzlich als Hohelied auf Pokémon in einem Facebook-Forum: „Ich bin so froh, mein Junge geht wieder vor die Tür.“ Der Streit um Sinn und Unsinn der pixeligen Phantasiewesen ist entbrannt.

„Das ist die Nostalgie meiner Kindheit“, sagte mir allen Ernstes ein 19-jähriger. Ich freue mich über seine Wortfindigkeit und staune über seine Aussage. Die Nostalgie eines gerade Volljährigen. Bester Beweis dafür, dass unsere Welt immer schnelllebiger wird? Er habe Pokémon als Kind auf dem Gameboy geliebt. Jetzt sei man eine Stufe weiter. Die Nahtstelle zwischen Virtualität und Realität. Ein großes Feld, bei dem wir ganz am Anfang stehen. Augmented Reality. Virtuelle Brille. Oculus Rift. HTC Vice. Google Glass. Nur zum Verständnis: Pokémon Go nutzt Google Maps Daten. So werden die heiß erjagten Pokémons über das Handy aufgespürt. Cafés, Fast Food Ketten, Tankstellen oder auch Museen, selbst auf der Jagd nach Kunden, ziehen mit Anlockmodulen Pokémons und somit junge Zielgruppen an. Nein, unsere Agentur gehört nicht dazu. Das kleine gelbe Fabelwesen auf unserem Foto ist reine Phantasie oder eben ein Produkt der Bildretusche.

Was brauchen wir diese kranke Welt voller Kriege, Attentate und gestörter Menschen, mögen sich gerade Jugendliche fragen, wenn wir uns eine neue, eine eigene Welt schaffen können? Klar, Computerspiele blenden den Mist um einen herum aus und ziehen den User in den Mist des Bildschirms. Pokémon Go ist der neue Hype. Und für alle eine Herausforderung. In der Wirtschaft: um sich eine Scheibe vom Gewinn zu sichern. Oder auch um den Umgang von Mitarbeitern während der Arbeitszeit zu definieren. Für Eltern und Lehrer: um richtig zu reagieren. Für die Politik. Für Verkehrsplaner. Für unsere Gesellschaft. Für alle, die sich mit veränderten Realitäten beschäftigen müssen. Eine Verweigerung ist nicht möglich. Keiner weiß, wo die Reise hinführt. Aber wir sitzen alle in diesem Fortbewegungsmittel. Früher hätten wir wohl gesagt: Wir sitzen alle im gleichen Boot. (Jetzt muss ich über meine Nostalgie lachen). Doch das eine Boot ist aus Holz und das andere eine Hochseeyacht voll technischem Schnickschnack. Vielleicht ist gerade das der Zeitgeist: Wer in seinem Umfeld nichts verändern kann, darf oder will, nichts zum Besseren bewegt, der nutzt die neue Welt, in der das Establishment nicht zuhause ist. Das Alter als Grenze. Früher wurde die lesende Generation von Alice ins Wunderland entführt, heute sind japanische Wesen die virtuellen Verführer. Oder wie Pippi Langstrumpf sang: „… ich mach‘ mir die Welt. Widdewidde wie sie mir gefällt …“

Philipp Steuer (25), Online-Redakteur und „Social Media Speaker“, schreibt: Pokémon zeige, „wie groß die Kluft zwischen denen ist, die dieses Internet adaptieren mussten und denen, die wie ich damit aufgewachsen sind“. Die Welt werde von Pokémon überrannt. „Da kommt was Neues und direkt pisst die eine Hälfte unserer Gesellschaft rum. … und blockiert damit den Fortschritt in diesem Land … Gefühlt entwickeln wir uns immer mehr zum Internet-Entwicklungsland, einfach nur aus Angst.“ Hoppla. Wer nicht dafür ist, ist gleich gegen den Fortschritt und bringt unser Land an den Rand des Ruins? Und ist Fortschritt immer automatisch gut? Steuer nutzt ein Totschlag-Argument. Mag sein, dass die USA, China, Indien schneller sind, begeisterter oder auch innovativer, aber sind sie deshalb erfolgreicher, kreativer, glücklicher?

Es gibt viele Maßstäbe, nach denen wir unser Leben bewerten können. Der Umgang mit Technologie ist einer davon. Doch Fortschritt braucht mehr als Know-how und Begeisterung. Fortschritt ist immer Abwägen. Klar, soll Wilhelm II. gesagt haben: „Das Auto hat keine Zukunft. Ich setze aufs Pferd.“ Die Entwicklung hat ihn überrollt: Deutschland hat keinen Kaiser mehr und Pferdekutschen haben nur noch Nostalgiewert. Trotzdem lahmt der Vergleich: Carl Benz dachte bei seiner Entwicklung sicher nicht an Führerschein, Verkehrsregeln, TÜV, Abgaswerte und Umweltzonen in Städten. Aber ohne Regeln kein Weiterkommen. Jedes Hurra braucht eine sinnhafte Hinterfragung. Vor allem: Wenn die Neuerung (und somit jeder) überleben soll. Ich jedenfalls bleibe dabei: Lasst uns die Welt erst einmal ohne Technik erkunden. Dann sehen wir weiter. Auch weil ein Tag nur 24 Stunden hat und mein Leben vor allem nach dem Sinn fragt: Wann ist was, wie, wo und warum sinnvoll? Auch: mit wem? Springen wir also nicht einfach in ein rasendes Boot, nur um ja nicht den Anschluss zu verpassen. Denn möglicherweise mögen wir zwar schnell voran kommen – aber vielleicht in die falsche Richtung …

Was meinen Sie? Bitte schreiben Sie mir.

(Foto: Jens Lingenau, selbst Pokémon spielender Mitarbeiter der Agentur exakt)